Alle Welt singt gerade das Lied der Selbstorganisation in Unternehmen. Ich finde das klasse. Was soll schlecht daran sein, wenn Menschen sich so organisieren, dass sie keine klassischen Vorgesetzten mehr brauchen? Wenn Menschen in eigener Verantwortung entscheiden? Erst mal ist das doch normal. Im privaten Alltag brauchen wir schließlich auch niemanden, der uns die kleinen und großen Entscheidungen des Lebens abnimmt. Oder wollen Sie jemanden haben, der Ihnen sagt, ob Sie Vollmilch oder Sojamilch kaufen, das Auto nehmen oder auf das Fahrrad springen, den billigeren oder den teureren Urlaub buchen? Was im privaten Leben ausgeschlossen scheint, ist in der traditionellen Arbeitswelt oft Alltag. Wir sind es gewohnt, Entscheidungen an unsere Chefinnen und Chefs zu geben – auch die, die wir wunderbar selbst treffen könnten. Nicht weil wir wollen, sondern weil wir es uns so antrainiert haben…
Unsere Unmündigkeit ist antrainiert
Tatsächlich kenne ich viele Firmen, in denen jede noch so kleine Ausgabe doppelt gegengezeichnet werden muss. Wo vorgegeben ist, welche Stifte man für seinen Schreibtisch kauft und in welchem Hotel man während der Dienstreise schlafen soll. Das zieht sich hin bis zu fachlichen Entscheidungen. Oft müssen Vorgesetzte über Themen walten, bei denen sich ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel besser auskennen als sie selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, als seien Strukturen und Prozesse gezielt so gebaut, dass Selbermachen entmutigt wird.
Macht das Sinn? Nein! Und trotzdem halten viele an dieser eingeübten Unmündigkeit fest. Wir haben abtrainiert bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Viele können ein Lied davon singen. Als junger Menschen kommt man mit viel Elan ins Unternehmen. Aber wenn man dann Entscheidungen trifft oder auf Veränderungen drängt, gibt es was auf die Mütze. Und das nicht zu knapp.
Absicherungswahn statt Entscheidungsfreude
Das Ergebnis: Menschen, die sich andauernd absichern. Die jede noch so kleine Entscheidung intern koordinieren und immer sicherstellen, dass die übergeordnete Riege mit an Bord ist. So sind am Schluss auch die anderen schuld, wenn etwas schiefgeht. Hauptsache, man steht selbst nicht in der Schusslinie!
Zeit also für Mut zur Mündigkeit. Deshalb ist die aktuelle Diskussion über Selbstorganisation so gut. Sie ermutigt uns, neu darüber nachzudenken, wie Arbeit noch so aussehen kann. Wir entdecken neu, welches Potenzial in einer Berufswelt steckt, in der Mut zum Entscheiden wichtiges Leitprinzip ist. Damit drehen wir die Gewohnheiten und gewachsenen Strukturen der letzten Jahrzehnte vom Kopf auf die Füße. Wir müssen umlernen und uns an mancher Stelle aus der gewohnten Komfortzone bewegen.
Entscheidungsmut mach lebendig
Meine Erfahrung ist: wenn Menschen das tun, passiert Wunderbares. Wenn wir unsere Entscheidungsspielräume ausdehnen, fühlt sich das ungewohnt an; aber eben auch lebendig und erfüllend. Wir fühlen uns produktiver, wirksamer. Und wir spüren, dass es in Ordnung ist, auch mal den Kopf hinzuhalten. Nicht jede Entscheidung muss allen gefallen. Viel wichtiger ist doch, DASS entschieden wird. Und zwar beherzt, klug und mutig!