Wie wir uns im Netz in aller Öffentlichkeit verstecken
Wir leben im Zeitalter der Rund-um-die-Uhr-Kommunikation. Mit dem Internet sind wir auf einmal alle zu Produzenten von Inhalt geworden. Das Ergebnis: Text über Text, Chat über Chat, Bild über Bild. Das Netz platzt aus allen Nähten vor lauter Austausch, Meinung, Selbstdarstellung.
Im Ergebnis wissen immer mehr Menschen immer mehr über uns. Wohin wir in den Urlaub fahren, mit welchen Kolleginnen und Kollegen wir privat unterwegs sind, wie unser Haustier heißt, was wir gerne essen, welche Restaurants wir schätzen, welchen Sport wir treiben.
Bei vielen von uns ist sogar bekannt, wie wir politisch ticken. Was unsere Meinung zu den heiklen tagesaktuellen Fragen ist. Welche Marken wir kaufen. Wie wir in Bikini oder Badehose aussehen. Wo wir uns verlobt haben und wie viele Gäste auf unserer Hochzeit waren. Und so weiter – Transparenz bis ins Privateste.
Der gläserne Mensch? Nicht wirklich!
Und trotzdem glaube ich: der Schein trügt. Wir mögen immer professioneller werden, was unsere Selbstdarstellung angeht. Die Qualität unserer Selfies toppt jedes Jahr neue Rekorde. Die Zahl und das Tempo unserer Posts wachsen. Die Inszenierung unseres Alltags wird besser uns besser.
Andere mögen denken, wir seien der gläserne Mensch. Dass sie alles über uns wissen. Aber das stimmt natürlich nicht.
Denn im Kern lernen wir im Zeitalter der Selbstinszenierung vor allem eins: viel von uns zu zeigen, ohne uns zu zeigen. Eigentlich teilen wir gar nicht unser Leben – wir teilen nur die Sonnenseiten.
Die fragilen Momente des Lebens bleiben unsichtbar
Klingt vielleicht erst mal komisch. Aber es ist die Kehrseite der Medaille, die ich oben beschreibe. Auf der einen Seite steht das Leben, das wir sorgfältig in Szene setzen. Und auf der anderen? Da sind die Dinge, die wir bewusst im Schatten halten. Und davon gibt es viele.
Unsere emotionale Verletzlichkeit. Unsere körperlichen Schwächen. Die Streitereien mit unserem Partner oder unserer Partnerin. Die Sorgen um unsere Kinder. Unsere Angst vor der Zukunft. Die Pflege unserer Eltern und Großeltern. Die Versagensängste im Büro. Unsere Müdigkeit im Alltag. Der Stress, der uns auffrisst. Sprich: die Seite des Alltags, die mindestens ebenso viel Platz hat wie die schönen Momente des Lebens.
Nichts geht über den Blick aus der Nähe
Es ist paradox. Einerseits sind wir öffentlicher und sichtbarer denn je. Gleichzeitig perfektionieren wir unsere Fähigkeit, uns zurückzuziehen und unsere verletzlichen Seiten im Dunklen zu halten.
Um so wichtiger ist, dass wir uns bewusst sind: was wir online von anderen sehen und von selbst zeigen – das ist nur ein Ausschnitt aus den vielen Facetten unseres Lebens. Was wir online sehen, sagt uns im Zweifel nichts. Nichts über die Kompetenz einer Person, nichts über ihr Lebensglück, nichts über ihre wahren Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume.
All das können wir nur live und aus der Nähe erkunden. Im echten Gespräch. In Situationen, in denen nicht alle mithören und mitgucken – sondern nur ganz wenige. In Räumen, die privat sind und nicht öffentlich. Im echten Leben, ungeschminkt und gerade deshalb wunderschön.